Gewachsen sein

Ich bin jetzt im echten Leben.
Das ist für mich nicht das Leben mit dem Vollzeitjob und dem Bausparvertrag-fähigen Einkommen, und der sich anbahnenden Familie. Dieses Leben konnte ich mir nie so wirklich für mich vorstellen, und mich manchmal gefragt, warum ich das eigentlich nicht hinkrieg, gleichzeitig war das darüber nachdenken allein schon nicht wirklich interessant für mich. Ein Job, für den ich 40 h meiner Zeit verkaufen würde, war für mich auch noch schwer vorstellbar. Das mit der Familie ... naja ich hab den Richtigen noch nicht getroffen und vielleicht kommt er auch nicht. Ich werde ins Elternhaus ziehen und meine Schwestern und Nichten und Neffen um mich haben. Das gibt mir eigentlich Liebe und Familie und Kinder genug. Vor allem Platz um zu Malen. Aber in diesem Leben bin ich noch nicht. Es ist nur der Gipfel, den ich schon sehen kann. Der Weg dahin könnte jetzt ziemlich straight forward sein, wer weiß ob noch etwas dazwischen kommt. Früher oder später werd ich aber dort sein.

Mit 17 schrieb ich auf meinen Spiegel verschiedenste Revolutionssprüche, von Che Guevara bis Rosa Luxemburg. Jean Ziegler hat meine Wut geweckt und in die richtige Richtung gelenkt. Auf meine Mutter war ich nur wütend, weil ich etwas mehr Raum brauchte - und sie eben auch. Es wurde eben Zeit, dass ich ausziehe. Ich wollte eine Revolution anzetteln, später -als die Politik doch anstrengend wurde- wollte ich Malerei studieren. Heute sehe ich, dass ich damals wirklich zu unreif war. Stattdessen kostete ich mich durch die Geisteswissenschaften.

Was soll aus mir werden? Politikerin, Künstlerin, Philosophin? In meiner kleinbäuerlichen Familie alles eher Schimpfworte als Berufe... Was kann ich denn anderes? hab ich mich verzweifelt gefragt. Irgendwas Soziales vielleicht? Diese Frage hab ich jetzt über 10 Jahre vor mir hergeschoben, hab sie in Jackentaschen vergriffen oder in Hosentaschen mitgewaschen, sie als Fussel von meiner Wäsche gepflückt und unters Bett gekehrt und sie wahrscheinlich irgendwann mit dem Staubsauger weggesogen. Aber wie die Ameisen kommt diese Frage doch irgendwie immer zurück. Läuft mit mir mit, wie ein offenes Schuhband, das ich nochmal fester binde und mit einem zusätzlichen Knoten sichere. Aber sobald ich aus dem Schuh raus muss, schwirrt sie schon wieder herum und sucht sich ein neues Versteck.

Jetzt bin ich im echten Leben. Das heißt, ich habe akzeptiert, dass Malerei und Gewerkschaft eben das sind, was ich mache. Klassenkampf und Kunst. Ich bin noch in den Kinderschuhen, ich bin erstmals Verhandlungsleiterin für einen Kollektivvertrag, ich hab erstmals 23 Bilder in 2 Monaten gemalt und 2 davon um insgesamt ein Monatsgehalt verkauft. Ich hab endlich ein engagiertes Team, mit dem ich für eine gerechtere zukünftige Arbeitswelt arbeite und kämpfe und habe ein konkretes Handlungsfeld für konkrete Handlungen von potentiell weitreichender Bedeutung und internationale Vernetzung. Ich bin im Vorstand eines Kunstvereins und hab die schwere Aufgabe, den Verein nach 10 Jahren aufzulösen und das Atelier zu räumen, einen Konflikt mit dem alten Vorstand durchzustehen, und vielleicht mit den richtigen Leuten einen neuen Ort aufmachen. Mein 17-jähriges Ich wäre doch zufrieden. Auf die Frage, warum erst mit 32, würd ich ihr sagen: Das ist der Reifeprozess und jetzt schlaf weiter, und vergiss meinen Besuch in deinem Traum schnell wieder.

Mein Jetzt-Ich ist sich nämlich noch gar nicht so sicher, ob es dem ganzen gewachsen ist. Natürlich bin ich dem gewachsen, weil ich bin jetzt hier und es gibt keinen anderen Weg als diesen und es geht jetzt nurmehr voran. Es ist wie eine neue Schule, ein neues Studium, von dem ich nicht weiß, wann ich abgeschlossen haben werde oder was danach kommt, ich kann mir nur vage vorstellen, wo ich im nächsten Jahr sein werde. Das Leben kommt gerade wie ein Lehrplan auf mich zu, ich brauche nur meine selbst eingefädelte Routine leben bis ich merke, dass ich eine Stufe weiter bin.
Es ist nur herausfordernd. Ich bin leicht gereizt. Mein Jähzorn löst sich nicht mehr so schnell auf, er hängt mir oft stundenlang nach. Ich bin emotional instabiler als sonst. Gleichzeitig weiß ich, dass es Zeit wird, mein Zimmer aufzuräumen, auszumisten, Platz zu schaffen um Yoga zu machen, meine To-Do-Liste langsam abarbeiten, wiedermal williger morgens aufstehen, vielleicht sogar Joggen, bestenfalls Eisschwimmen.
"Willst du drüber reden?" fragt mich ein Freund.
Nein, es gibt nichts zu bereden, gebe ich trocken zurück. Meine sozialen Nerven schwächeln enorm, auch Menschen die es gut mit mir meinen, sind mir anstrengend. Es gibt nichts zu bereden, es gibt nur was zu tun. Ich weiß was ich tun muss, darüber reden ist Zeitverschwendung.
Dennoch hat Schreiben geholfen.

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Zuletzt aktualisiert: 18. Feb, 23:57

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