Lektion 1: Achte auf Glitches

Gestern Nacht vor dem Einschlafen habe ich gebetet. Ich bat den Lieben Gott, dass er meinem Vater noch ein langes Leben schenken möge. Der Tod war am Wochenende immer in meinem Hinterkopf. Ob auf der Autobahn nach der Familienfeier, oder beim Radfahren mit Kind, oder beim Spazierengehen mit Opa und Kind. Papa ist jetzt 70 und Leute sterben auch manchmal ganz unangekündigt. Seit unserem Gespräch vor 2 Wochen, in dem er mir erzählt hat, dass er auch öfter Suizidgedanken hat und auch schon mal kurz davor war, habe ich Angst um ihn. Er würde sich nicht umbringen, er weiß, wie stark er sich gegen diese Gedanken stellen muss, dass es oft nicht leicht ist, aber in diesen Momenten denkt er nur an sich und pfeift auf alle anderen. Ich mache mir aber keine Sorgen, dass er sich umbringt. Mehr mache ich mir Sorgen, dass er einfach einschläft und nicht mehr aufwacht, oder dass er einfach umfällt, wie kürzlich der alte Dorfpfarrer.
Meine Nichte kuschelt ihn so gern, Opa ist der allerbeste und allerliebste. Ich stelle mir meine Schwester vor, wie sie geweint hat, als unser Opa starb. Ich war erst 2 Wochen alt. Meine Oma hat erzählt, wie schwer das meine Schwester traf. Ich wollte mir meine Nichte nicht in diesem Schmerz vorstellen. Ich erinnerte mich an den Neujahrstag 2000, als ich 10 Jahre alt war und nicht glauben konnte, dass meine Oma in der Nacht gestorben war. Meine mir näheste Schwester wollte es auch nicht glauben. Wir wollten uns gegenseitig überzeugen, dass man uns was vormacht und Oma bald nach Hause kommt. Ich konnte tagelang nicht aufhören zu weinen. 3 Tage, jeden Abend beim gemeinsamen Gebet in der Kirche und danach am Sofa zuhause, wahrscheinlich bis ich einschlief, sowieso die ganze Trauerfeier lang und den Trauerzug hinter dem Leichenwagen anführend, immerfort mit meiner Oma redend... Weil Oma eben immer für uns da war, wenn sonst niemand für uns da war. So wie Papa jetzt für L. Und für mich.

Mein Vater hat mir gestern noch 200 € gegeben, weil ich gerade keine Bankomatkarte habe. "200 sind zuviel", hab ich gesagt, "50 hätten doch gereicht." - ich bin den neuen Arbeitsplan, in dem ich kaum Trinkgeld bekomme, wohl noch nicht gewohnt und hatte nicht bedacht, welche Kosten für Radreparaturen diese Woche auf mich zukommen sollten. Er sagte: "Dann heb es dir auf. Du bekommst ja eh sonst nie Geld von uns."
"Okay. Fast nie. Danke, Papa."

Als ich Gott also darum bat, er möge uns den Papa noch lange erhalten, ließ mein Unterbewusstsein wohl die Realität erwachsen, in der der Papa in dieser Nacht, ja vielleicht just in diesem Moment, stirbt. Ich bat inständig darum, gib ihm noch viele Jahre, nimm ihn noch lange nicht mit, wir brauchen ihn noch, er hat hier noch viele Aufgaben, er will noch leben, er soll möglichst so sterben wie mein letzter Opa - fast 100-jährig im Beisein seiner Urenkel. --- Um letzteres hab ich nicht gebeten, das wäre vielleicht zuviel verlangt, die Natur hat schließlich auch ihre Grenzen. Aber es gibt noch viel zu sehen, er hat noch viel zu lehren und erzählen, und will doch auch noch einiges erleben und erfahren.

und ich weiß selbst, wie leicht man das manchmal auch vergisst. In meinen besten Phasen war ich jeden Tag so neugierig auf den nächsten und auf die Zukunft.
Heute muss ich mich manchmal an meine Nichte, meine Neffen, meine Schwestern, meine Eltern erinnern, um von den Sterbenswünschen weg zu kommen. Ich danke auch für meinen besten Freund H., ich danke auch für E. und für R., meinen nun schon langjährigen Mitstreiter. Ich danke für meine Freundin M. auch wenn sie in ihrem 40 h Job immer so gestresst ist, dass sie ich mich mit meinem Kummer lästig fühle. Aber es würde auch ihr weh tun, wenn ich ... sowas kann sie in ihrem Stress sicher noch weniger brauchen.

Der Arbeitstag war schrecklich. Ich sage zwar immer "Wenn der Job keinen Spaß macht, wird es Zeit das Rad zu servicieren", aber nun mache ich diesen Job schon wirklich zu lange. Ich werde vom stundenlang durch die Stadt Radeln schon ganz blöd. Außer gute Reaktionsfähigkeiten, Orientierung in der Stadt und eine dicke Haut im Straßenverkehr, bringt mir dieser Job rein gar nichts. Ich streite schon zu lange mit einem Management, das jährlich seine Gesichter wechselt, während mein Gesicht auch nicht jünger wird, aber Jahr für Jahr diese Hydra mit ihren nachwachsenden Köpfen überzeugen will, uns höhere Löhne zu zahlen, korrekt bemessenes Kilometergeld, mehr von uns als Arbeiter*innen anzustellen, und nicht als Freie Dienstnehmer zu beschäftigen... ich hab noch einen Kollektivvertrag zu verhandeln. Die Ryan Air Belegschaft protestiert gegen die Gewerkschaft und würde lieber einen Grundlohn ab 800 € akzeptieren, als dass es zu keinem Abschluss kommt und Ryan Air in Österreich schließt. Die Flugbegleiterinnen kommen aus Ländern Osteuropas, wo 800 € immer noch genug sind, um dafür die Heimat zu verlassen und sich in Wien mit anderen erwachsenen Arbeiter*innen ein bescheidenes Zimmer zu teilen, damit die Familie gut leben kann und die Kinder vielleicht einmal auf die Uni gehen können.
Und da steh ich nun mit meinem 2. Platten in einer Woche und bitte den Dispatcher ergeben um eine bezahlte Pause, damit ich diesen reparieren kann. Viele meiner Kollegen sind wie diese Flugbegleiterinnen. Sie arbeiten prekär und gerne auch 60 h pro Woche. Die Möglichkeit so viel wie möglich zu arbeiten um so viel wie möglich zu verdienen würden sie nicht gegen einen normalen und dem kollektivvertraglich unterliegenden Arbeitsvertrag tauschen. Sie sind hier hergekommen, um zu arbeiten. Hobbies, weitere Bildung, täglich ausgiebige Ruhezeit und Freizeit, sind unnötiger Luxus, von dem ihre Familien nichts haben.
Ich soll noch einen Kollektivvertrag verhandeln. Für 50 ebenso wie ich frustrierte Kollegen mit Arbeitsvertrag? Ich brauch einen neuen Job. Ich nehme mir vor, zuhause alle meine Ressourcen aufzuschreiben, die mich zu einem guten, neuen Job führen. Py ist jetzt Businesspartner seiner Vermieterin und wird in unserem alten Zuhause, das jetzt seine Wohnung ist, bald mietfrei wohnen. Robert T. Kiyosaki hat unserer Beziehung den Garaus gemacht.
Oder soll ich vielleicht einfach den Neoliberalismus gewinnen lassen? Irgendjemand muss die Drecksarbeit machen und das passive Einkommen ignoranter Mittelschichtsidioten verdienen. Vielleicht jemand mit einem ähnlichen Hintergrund wie die Flugbegleiterinnen von Ryan Air? Oder halt Student*innen.

Die Recherche über die sozialstaatlichen Errungenschaften des Österreichischen Gewerkschaftsbundes seit 1945 liest sich bald wie ein Katalog ausgestorbener Tierarten.

Ich will den ganzen Tag nur weinen. Aber wo? Meine neue WG war ein Fehlgriff; was hab ich mir dabei gedacht? Meine Freundin M. hat sicher keine Zeit. H. ist für mich da, ich kann auch bei ihm übernachten. Ich lande erst bei Py, wo ich eine Stunde lang immer wieder in Heulkrämpfe ausbreche, bis ich einen Joint rauche.
Ich gehe in meine neue WG, telefoniere mit Py, der mir sagt, ich kann zu ihm zum Essen kommen, aber er wird keine Zeit für mich haben. Die Vernunft freut sich, dass die Seele nicht ganz alleine essen muss und den Körper aus mangelnder Inspiration nicht einfach wieder 3 Tage hungern lässt. Also liefere ich nur ein paar Sachen ab, pack ein paar Sachen ein, und gehe wieder zu Py. Eile nochmal zurück um einen von 2 100 € Scheinen von meinem Vater zu holen und steck sie mir in die Hosentasche.

Als ich vor der Haustüre den Schlüssel aus der Hosentasche nehme, passt er nicht ins Schloss. Ich kontrolliere, ob es der richtige war. Ich probiere es nochmal und kontrolliere nochmal. Er geht nicht hinein. Schließlich öffne ich die Haustür mit dem Zentralschlüssel der Post.

Stunden später kontrolliere ich die Hosentasche und suche überall nach dem 100 € Schein. Ich laufe hinaus vor die Tür, ich laufe die 200 m zu meiner WG zurück, ich stecke die noch übrigen 100 € ein; spiele die wahrscheinliche Handhabung von Schlüssel, Atemschutzmaske, Feuerzeug und 100 € in meiner Hosentasche durch und muss mich damit abfinden, dass ich die Hälfte des Geldes von meinem Vater verloren habe. Es hätte eine Schwarzfahrstrafe sein können, oder eine überfahrene rote Ampel. 100 € sind viel Geld, aber sie können so schnell verloren gehen. Mein Vater ist gestern Nacht nicht gestorben.

Ich sperre die Haustür komplett problemlos auf und komme zurück in Py's Wohnung. Er ist nicht mehr da. Nur eine SMS vor 6 Minuten, dass er kurz ums Eck auf ein Bier gegangen ist. Ich wollte zu H. aber ich wollte auch zu Py. Ich breche in Tränen aus und heule 5 bis 10 Minuten lang laut schluchzend und greinend wie ein kleines Kind, das sich nicht trösten lässt. Dann beginne ich zu schreiben.
NeonWilderness - 16. Jun, 02:46

Wow. Das ist ein starker Text und er hat mich sehr berührt. Vor 10 Jahren, als Sie 20 waren, habe ich meinen Vater verloren. Tod und Trauern sind ein schwieriges Metier. Ich schrieb damals, dass man alles Erdenkliche im Leben üben kann: wie man sich eine Krawatte bindet, wie man am besten küsst, oder wann eine Basilikum-Pesto umwerfend schmeckt. Tod, Trauern und Beisetzungen bieten wenig Raum zum Üben. Jeder von uns geht irgendwann durch den Moment, an dem ein Elternteil nicht mehr da ist und man noch so viele Fragen hat. Und das Vermissen einem die Luft zum Atmen nimmt. Ich wünsche Ihnen, dass diese Erfahrung für Sie noch weit in der Zukunft liegt und dass Sie dann die Menschen um sich haben, die sie tragen und von Ihren dunklen Gedanken befreien.

Ich bin weder Neoliberalist noch ignoranter Mittelschichtsidiot, aber würde Ihnen gerne die verlorenen 100€ ersetzen, einfach weil ich mit Ihnen fühle und ich nicht 2 platte Reifen in der Woche reparieren muss. ;)

daisee gell - 18. Jun, 18:59

Vielen Dank

:-O ist das Ihr Ernst?
Im ersten Moment wo ich Ihre Antwort gelesen habe, wollte ich dankbar gerne Ihr Angebot annehmen, aber dann habe ich mich besonnen, dass das doch schamlos und frech wäre...

Es geht mir gerade nicht gut. Da taucht die Streitfrage auf, ob man sich denn so helfen lassen dürfe, oder ob man durch eine persönliche Krise denn nicht alleine durch müsse, und nur alleine durch könne.
Der solidarische Mensch in mir sagt: "Ja, lass dir helfen! Geh sorgsam um mit der Hilfe, die du bekommst, ziehe daraus Hoffnung, Zuversicht und Vertrauen in die Welt und in die Menschen. Mit dieser Stärkung hievst du dich wieder heraus. Dann vergiss nicht, anderen Menschen ebenso selbstlos zu begegnen, wenn es dir möglich ist."
Die Neoliberalistin sagt: "Nein, gib einem Menschen einen Fisch und du ernährst ihn für einen Tag; lehre ihm das Fischen und du ernährst ihn ein Leben lang. Durch die Krise musst du allein, du wirst viel stärker wieder herauskommen. Den Menschen vertrauen ist Unsinn, zu riskant; vertraue lieber auf dich selbst. Wenn du dich dann selbst herausgehievt hast, kannst du deine Erfolgsgeschichte erzählen und andere Menschen damit inspirieren."

Dann faselt die Solidaritäts-Verfechterin irgendwas von der Illusion der Chancengleichheit und die Neoliberalistin antwortet mit natürlicher Auslese.
..
NeonWilderness - 19. Jun, 01:07

Ja, absolut ist das mein Ernst. Oder um's für die Neoliberalistin zu sagen: Ihr Risk/Reward-Ratio in dieser Sache ist unbestreitbar gut. Es verlangt keinerlei Gegenleistung, nicht mal Vertrauen, kein Risiko, keine Preisgabe von irgendwas, außer vielleicht irgendwann mal selbst etwas weiterzugeben, wenn es Ihre Situation zulässt. Und vielleicht investieren Sie es in 2 "Schwalbe Marathon Plus Unplattbar" Reifen, dann hätten Sie mehr Zeit für sich und dafür, statt Reifenreparieren womöglich das Fischen zu lernen. ;)

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